Nervenumleitung verhilft bei Spina bifida zu Kontrolle der Blase - Wir müssen erst nachweisen, dass es tatsächlich hilft
WASHINGTON - USA: Mit Hilfe einer umgeleiteten Nervenleitung wollen Ärzte Menschen mit Inkontinenz zur Kontrolle ihrer Blase verhelfen. Die endgültigen Ergebnisse der Pilotstudie stehen noch aus, aber schon mehr als 100 Patienten haben Kenneth Peters um eine Behandlung gebeten. Peters ist der leitende Urologe des William Beaumont Hospital in Royal Oak im US-Staat Michigan. Mit einer ungewöhnlichen Operation hat er es zumindest einigen Menschen ermöglicht, zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Blase zu kontrollieren.
Die Teilnehmer der Studie, neun Kinder, leiden an dem Geburtsdefekt Spina bifida, offenem Rücken. Zwar ist der Heilungsprozess nach dem Eingriff bei keinem von ihnen abgeschlossen. Aber der neunjährige Billy Kraser aus Pennsylvania spürt zum ersten Mal Harndrang: «Es fühlt sich an wie ein leichtes Kribbeln in mir drin», sagt der Junge. Seine Mutter Janice fügt hinzu. «Wenn er zur Toilette geht und danach trocken und sauber ist, ist das für ihn ein echter Triumph. Aber der Mediziner Peters warnt vor verfrühter Euphorie. «Etliche Patienten würden viel Geld für die Operation bezahlen, aber wir müssen erst nachweisen, dass es tatsächlich hilft», sagt er. «Wenn es funktioniert, wäre das für Patienten mit Spina bifida ein riesiger Fortschritt. Spina bifida ist ein Geburtsfehler, mit dem jährlich in den USA rund 1.300 und in Deutschland etwa 500 Babys zur Welt kommen. Weil sich während der frühen Schwangerschaft die untere Wirbelsäule nicht vollständig schließt, wird das Rückenmark mit den darin verlaufenden Nervenbahnen geschädigt.
Je nach Schweregrad reichen die Folgen von leichten Gehstörungen bis hin zu ausgeprägten Lähmungen. Wegen der beeinträchtigten Nervenverbindung können die meisten Betroffenen auch Blase oder Darm kaum kontrollieren. Manche Patienten sind inkontinent, andere wie Billy haben das gegenteilige Problem: Sie müssen die Blase in regelmäßigen Intervallen per Katheter entleeren, was das Risiko für Harnwegsinfektionen und Nierenschäden erhöht. Zwtl: Bislang kaum gute Behandlungsansätze Gute Behandlungsansätze gab es bisher kaum - bis Chuan-Gao Xiao von der chinesischen Universität Hauzhong auftauchte. Um die gestörte Reizleitung zu umgehen, vernähte der in den USA ausgebildete Chirurg im unteren Rückenmark zwei Nerven, die eigentlich nicht zusammengehören. Er verband einen Lendennerv, der vom Oberschenkel kommt, mit jenem Nerv, der die Kontraktion der Blase auslöst. Wenn beide miteinander verwachsen, sendet ein Kratzen am Schenkel ein Signal zur Blase. In China sollen sich schon mehr als 1.000 Patienten dem Eingriff unterzogen haben. Einen Teil seiner Daten hat Xiao in urologischen Fachzeitschriften publiziert. Peters lernte das Verfahren bei Xiao und finanzierte die Operationen an den Kindern, die pro Eingriff rund 40.000 Dollar (umgerechnet rund 31.000 Euro) kosten, mit Hilfe privater Spender. Zwar können bis zum Verheilen der Wunde Monate vergehen. Aber nach einem Jahr können sieben der neun Kinder ihre Blase entleeren, indem sie sich am Oberschenkel kratzen.
Wer vorher Medikamente gegen eine überaktive Blase nahm, kann nun darauf verzichten. Andere wie Billy, die bislang auf Katheter angewiesen waren, können nun selbst urinieren. Aber der Erfolg hat seinen Preis: Billy war nach dem Eingriff einen Monat lang auf einen Rollstuhl angewiesen, bis er wieder wie früher an Krücken gehen konnte. Ein anderer Patient hinkt seit der Operation. Zwtl: Seltenere Harnwegsinfektionen Dennoch: Als Peters seine Ergebnisse kürzlich auf einer Urologentagung vortrug, war der Raum zum Bersten voll. «Das ist sehr vielversprechend», sagt der Kinderurologe Kenneth Glassberg von der Columbia Universität in New York. Auch er bekommt reihenweise Anfragen von verzweifelten Eltern. Aber zunächst müsse man klären, wer für einen solchen Eingriff überhaupt infrage komme, betont Glassberg. Dies hänge nicht zuletzt davon ab, wo und wie stark das Rückenmark geschädigt sei. Um das Verfahren richtig bewerten zu können, fehle es an Forschungsgeldern, klagt Janice Kramer. Ihr Sohn Billy kann seine Blase zwar noch immer nicht vollständig entleeren. Aber seine Harnwegsinfektionen sind deutlich seltener geworden. Inzwischen hat er seine Blase so weit unter Kontrolle, dass er demnächst wohl auf Windeln verzichten kann. Dann könnte er - zum ersten Mal in seinem Leben - ganz normale Unterwäsche tragen.