Ein Gesetz mit Lücken - Wenn Krankenkassen auf Kosten der Versicherten sparen
Von Uschi Götz und Gerhard Schröder
BERLIN: Trotz des neuen Gesetzes zur Heil- und Hilfsmittelversorgung häufen sich die Beschwerden von älteren und chronisch kranken Patienten. Viele sind der Meinung, ihre Brillen, Hörgeräte oder Gehhilfen seien von schlechter Qualität. Bieten ihnen die Krankenkassen Billigprodukte an, um Kosten zu sparen?
Karl Lauterbach (SPD) "Das ist eine Ungleichbehandlung gewesen, die wollen wir hier stoppen."
Birgit Wöllert (Die Linke): "Weil es dringend überfällig und notwendig war. Die Praxis hat regelrecht danach geschrien, hier etwas zu verändern."
Erich Ilstorfer (CDU/CSU): "Deshalb ist diese gesetzliche Neuregelung überfällig."
Mit den Stimmen von Union und SPD - Linke und Grüne enthielten sich - beschloss der Bundestag im Februar 2017 die Reform der Heil- und Hilfsmittelversorgung, kurz HHVG genannt. Als Heilmittel werden nichtärztliche Therapien oder Behandlungen bezeichnet. Also Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie oder medizinische Fußpflege. Als Hilfsmittel gelten zum Beispiel Rollstühle und Gehhilfen, Brillen und Hörgeräte, Windeln und Blasenkatheter. Die Politik handelte, weil es bei der Versorgung von älteren und chronisch kranken Menschen mit Hilfsmitteln viele Beschwerden über unhaltbare Zustände gab.
Seit einem Jahr ist das neue - selbst von der Opposition im Bundestag gelobte - Gesetz nun in Kraft. Für die Patienten jedoch lässt eine Verbesserung bei der Versorgung noch immer auf sich warten. Anfang des Jahres griff deshalb das Bundesversicherungsamt ein. Der Verdacht: Einige Kassen würden bei den Hilfsmitteln noch immer zu sehr auf den Preis achten und nicht auf die Qualität.
Die 25-jährige Psychologiestudentin Anouk Schmitt ist seit einer Impfkomplikation vor drei Jahren querschnittsgelähmt. Im vergangenen Jahr – als das Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung auf den Weg gebracht wurde - begann für die junge Frau ein monatelanger Kampf um dringend notwendige Hilfsmittel:
"Der Bereich unter meinem Querschnitt, könnte man ganz platt sagen, ist ausgefallen. Alles, was da drunter geht, funktioniert nicht, also funktioniert auch auf Toilette gehen nicht ganz einfach. Da muss man sich einfach katheterisieren. Also viele stellen sich darunter irgendetwas ganz Spezielles vor oder enorm aufwändig. Man schiebt sich einfach wie so ein Strohhalm in die Blase, die Blase entleert sich. Fertig. Hokuspokus."
Um den passenden Katheter zu finden, hat Anouk Schmitt einige Produkte getestet.
"Grundsätzlich muss man unterscheiden, es gibt Katheter mit Beutel und es gibt Katheter ohne Beutel. Es gibt Katheter, die sind beschichtet, die sind in so einer Desinfektionslösung und es gibt welche, die haben das nicht."
Von verschiedenen Firmen forderte die junge Frau Proben an und fand nach einiger Zeit das für sie geeignete Produkt. Ihre Kasse bezahlt ihr genau sechs Katheter pro Tag. Ein ortsnaher Versorger übernahm die Betreuung, Anouk Schmitt bekam auch einen persönlichen Ansprechpartner.
"War total glücklich mit meinem alten Versorger. Und da gab es den Service, dass ich den direkt anrufen konnte, meinen Mitarbeiter, was ich total toll fand. Und der hat sich dann sofort gemeldet und hat mir immer angeboten: Frau Schmitt, haben Sie jetzt ein Problem? Brauchen Sie jetzt einen Katheter oder reicht es, wenn ich morgen früh bringe? Und der hat die mir dann direkt an die Haustüre gebracht."
Viele sind auf persönlichen Service angewiesen
Viele chronisch Kranke, auch viele ältere Menschen, sind auf einen solch persönlichen Service angewiesen. Doch die Krankenkasse von Anouk Schmitt schrieb die Versorgung, in ihrem Fall von Blasenkathetern, aus. Damit tat die Kasse genau das, was eigentlich nach dem neuen Gesetz nicht mehr vorkommen sollte. Ein bundesweit arbeitendes Dienstleistungsunternehmen im Bereich Gesundheit und Pflege war günstiger als der örtliche Versorger. Dieses Unternehmen hat im April 2017 die Betreuung der jungen querschnittsgelähmten Frau übernommen. Einen persönlichen Ansprechpartner hat sie jetzt nicht mehr.
"Ich habe damals gesagt, na ja ok, das wird schon irgendwie. Und habe auf mein Päckchen gewartet. Ich hatte die damals, ja es ist ungefähr genau ein Jahr her, hatte die damals zu April bestellt. Und es kam nichts."
Eine Reserve an Kathetern hatte Anouk Schmitt allerdings nicht. Die von der Krankenkasse reglementierte Menge von sechs pro Tag sieht diesen Notfall nicht vor. Das Dienstleistungsunternehmen gab sich indes ahnungslos; schob das Versäumnis auf den Hersteller der Katheter, der nicht geliefert hätte. Auch bei ihrer Krankenkasse war man ratlos; man empfahl der jungen Frau sogar, sich im Krankenhaus einen Dauerkatheter legen zu lassen. Eine menschenunwürdige Situation, wie sie bis heute Tausende Patienten erleben: Menschen mit Inkontinenz oder mit künstlichem Darmausgang, auch Beatmungspatienten und viele mehr sind betroffen. Die Ausschreibungspraxis der Krankenkassen hat inzwischen auch das Bundesversicherungsamt – BVA - auf den Plan gerufen.
"Es gibt drei Ausschreibungen von drei Ersatzkassen, in denen wir derzeit dabei sind, diese Ausschreibungen zu untersagen", sagt Jan Plate, er ist Präsident des Bundesversicherungsamts, das ist die oberste Aufsichtsbehörde im Gesundheitswesen.
Anfang des Jahres hat Plate Untersuchungen gegen die Barmer Ersatzkasse, die DAK Gesundheit und die Kaufmännische Krankenkasse KKH eingeleitet. Sie wollten Beatmungsgeräte für Schwerstkranke und Inkontinenzprodukte für Stomapatienten, also Patienten mit künstlichem Darmausgang über Ausschreibungen einkaufen. Ein Vorhaben, dem die Aufsichtsbehörde jetzt einen Riegel vorgeschoben hat. Der Grund: Die Ausschreibungen seien nicht zweckmäßig, sagt Plate.
"Weil ein hoher Beratungsanteil mit diesen Leistungen verbunden ist und die können nicht über eine allgemeine Ausschreibung am Markt beschafft werden, sondern setzt eine konkrete Beratung vor Ort voraus. Sie sollten generell nicht ausgeschrieben werden."
Billige Hilfsmittel - schlechte Qualität
Die Befürchtung: Die Kassen könnten die Ausschreibungen nutzen, um die Hilfsmittel für die Patienten möglichst billig einzukaufen – zulasten der Qualität. Eine Praxis, die die gesetzlichen Versicherer in den vergangenen Jahren immer wieder genutzt haben, sagt der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem:
"Wir haben gemerkt in den vergangenen Jahren, dass bei Ausschreibungen von Hilfsmitteln die Anbieter gewonnen haben, die zwar die Billigsten waren, die aber eine schlechte Qualität geliefert haben. Sowohl was die Produkte, wie auch die Dienstleistungen betrifft. Und das wollte die Politik nicht."
Deshalb hat die Große Koalition vor einem Jahr die Regeln verschärft. Der Preis darf bei Ausschreibungen nur noch mit 50 Prozent in die Bewertung eingehen. In den Fällen, die das Bundesversicherungsamt jetzt untersuchte, waren es 80 bis 90 Prozent. Hinzu kommt: Hilfsmittel, die individuell angepasst werden müssen und eine intensive Betreuung der Patienten nötig machen, sollen gar nicht mehr ausgeschrieben werden. Deshalb forderte das Bundesversicherungsamt die drei Kassen kurz vor Ostern auf, die Ausschreibungen zurückzuziehen.
"Grundsätzlich steht im Sozialgesetzbuch, dass die Kassen wirtschaftlich und sparsam handeln sollen. Aber die Wirtschaftlichkeit und die Sparsamkeit erfolgt nur im Rahmen der geltenden Gesetze. Und die schreiben für Hilfsmittel eine bestimmte Qualität vor."
Gerade weiche Faktoren wie individuelle Beratung seien in allgemeinen Ausschreibungen aber schwer zu garantieren, meint Plate. Deshalb legte der Chef des Bundesversicherungsamt sein Veto ein. Doch die drei betroffenen Kassen denken gar nicht daran, die Ausschreibungen zurückzuziehen und haben gegen den Bescheid ihrer Aufsichtsbehörde geklagt. Die DAK etwa beim Landessozialgericht Hamburg. Ihnen geht es ums Prinzip. Wann dürfen die Kassen Hilfsmittel ausschreiben? Das sei im Gesetz nicht klar geregelt, erläutert Thomas Bodmer, Vorstand der DAK-Gesundheit:
"Wir klagen jetzt, um die rechtliche Klärung herbeizuführen, ob tatsächlich das Thema Zweckmäßigkeit, um das geht im Kern, ob sich das mit dem Ausschreibungsrecht auch die Waage hält. Weil wir haben ansonsten bei jeder Hilfsmittelausschreibung, die künftig getätigt werden sollte, immer das Thema, wer hat recht: Europäisches Ausschreibungsrecht, das uns Kassen eigentlich vorschreibt, ab einem Gesamtvolumen von 221.000 Euro dementsprechend eine Ausschreibung vorzunehmen. Oder wie ist der Begriff Zweckmäßigkeit zu deuten. Genau darum geht der Streit."
Den Vorwurf, die Kassen wollten mit der Ausschreibung geforderte Qualitätsstandards unterlaufen, hält Bodmer für unbegründet. "Wir wollen eine hochwertige Versorgung der Patienten. Und die fordern wir auch von den Anbietern", sagt der DAK-Manager:
"Wir haben bewusst in der Ausschreibung die hohe Beratungsqualität gefordert. Wo man uns auch nachweisen muss, dass die Stomaträger, also die Patientinnen und Patienten, dass die in der Beratung sind. Und dass ausgebildete Stomaexperten die Beratung durchführen müssen, und das uns auch dokumentieren sollen. Sodass bei uns gar niemand bieten konnte, der wusste schon von vorneweg, dass er durchfällt, wenn er die Qualitätsstandards nicht einhält, die weit über das Hilfsmittelverzeichnis hinausgehen."
Ausschreibungen sparen viel Geld
Aber Bodmer verschweigt auch nicht, worum es den Kassen in erster Linie geht: Sie können durch Ausschreibungen viel Geld sparen. Und dazu seien sie auch verpflichtet. "Wir müssen sparsam mit den Beiträgen der Versicherten umgehen", sagt er. Und dazu seien Ausschreibungen ein gutes Instrument:
"Und da kann ich sehen, dass der Preis schon immens nach unten gegangen ist. Aber wie gesagt, nicht wegen der Qualität. Sondern weil ein Anbieter dann für eine bestimmte Region auch klar kalkulieren kann, weil dann für ihn unnötige Kosten für Marketing und Werbung wegfallen, weil er hat ja ein Gebiet dazu gewonnen, wo er beliefern kann."
In einigen Bereichen gebe es ein regelrechtes Preisdumping, sagt Johannes Carstens. Er ist Chef eines großen Sanitätshauses in Stuttgart, zu dem mehrere Filialen gehören. Das Gesetz sei gut gemeint, doch in der Praxis müssten viele Patienten - je nach Kassenzugehörigkeit - nun mit schlechterem Hilfsmitteln auskommen als vorher.
"Das ist das Problem, dass die Preise so niedrig sind, dass teurere Produkte, die dem Patienten besser dienlich sind, einfach kalkulatorisch nicht mehr drin sind. Das heißt, es wird zu den Preisen, die im Moment am Markt sind, geschaut, dass man das Günstigstes bekommt, dass dem Versicherten zwar nutzt, aber eben nicht den Vorteil bietet, den er seit Jahren hatte."
Patienten sollen ohne Aufzahlung zwischen verschiedenen Produkten wählen dürfen – auch das ist im neuen Gesetz eigentlich festgelegt. Doch viele Patienten haben diese Auswahl gar nicht, erklärt Johannes Carstens. Inkontinenten Patienten mit einer bestimmten Diagnose beispielsweise stünde eine Fallpauschale von gerade einmal 14 Euro zur Verfügung.
"Bei manchen Preisen sind uns die Hände gebunden, da gibt es keine zwei bis drei Produkte, sondern da gibt es maximal nur eins oder eigentlich gar keins ohne Aufzahlung. Inkontinenz ganz heftig, bei Einlagen ist es auch ein Thema, also Schuheinlagen. Es ist im Bereich Stoma, im Bereich Rollstühle, im Bereich Gehhilfen. Also, es ist in ganz vielen Bereichen, wo die Kassen Massen bezahlen müssen, also große Mengen, sind die Preise so kaputt."
Mit 28 Jahren bekam Kurt Kern die Diagnose Darmkrebs. Seit dieser Zeit hat er ein Stoma, einen künstlichen Darmausgang. Heute ist er über 60 und hat sich mit seiner Krankheit arrangiert. Wobei er sich erinnert, dass die Bedingungen vor einigen Jahren besser gewesen seien:
"Da konnte ich, egal wo ich war, ins Sanitätshaus gehen und konnte mir einfach Proben holen. Und konnte dann ausprobieren, was für mich eigentlich richtig ist. Immer unter Assistenz von Fachpersonal. Und das wird systematisch abgebaut."
Kern ist Ilco-Landesvorsitzender in Baden-Württemberg, eine Selbsthilfevereinigung für Stoma-Träger und Menschen mit Darmkrebs. In deren Geschäftsstelle mehren sich in letzter Zeit die Klagen:
"Wir haben wöchentlich jetzt Beschwerden von Betroffenen. Und das sind vor allem auch ältere Menschen, die froh waren, dass sie endlich ihre Versorgung, die ihnen hilft, gefunden haben."
Die Krankenkassen selbst sehen das etwas anders. In Einzelfällen könne es immer mal Schwierigkeiten geben, räumt DAK-Manager Bodmer ein. Insgesamt gebe es aber wenig Anlass zur Klage:
"In Deutschland haben wir in allen Hilfsmittelbereichen eine sehr, sehr hohe Qualität. Und eine ausreichende, gute wirtschaftlich, zweckmäßige Versorgung. Aber es zeigt natürlich auch, dass es immer noch Verbesserungen gibt."
Bodmer verweist auf das Hilfsmittelverzeichnis. Darin ist aufgelistet, welche Qualitätsanforderungen die Hilfsmittel erfüllen müssen, damit eine gute Versorgung garantiert ist.
"Alle im Hilfsmittelverzeichnis gelisteten Produkte haben hohe Qualität."
Wenn sich Patienten trotzdem beklagten, dass sie für höherwertige und teurere Rollatoren oder Rollstühle Geld dazu zahlen müssten, dann habe das auch mit der hohen Erwartungshaltung zu tun, die von den Kassen nicht immer gedeckt werden könne, sagt Bodmer.
BVA-Präsident Plate sieht das übrigens ähnlich: das medizinisch Notwendige werde von den Kassen finanziert, aber nicht immer das vom Patienten gewünschte. Der oberste Kontrolleur im Gesundheitswesen hält das für eine vertretbare Regelung:
"Das System muss insgesamt finanzierbar bleiben. Und das gilt für alle Bereiche."
Wettbewerb unter den Kassen hat zugenommen
Knapp acht Milliarden Euro haben die Kassen 2016 für Rollstühle, Windeln, Katheter und andere Hilfsmittel ausgegeben, das sind 50 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor. Und das ist für die Kassen ein Problem. Denn die Politik hat den Wettbewerb zwischen den Kassen angeheizt, durch die Einführung des Zusatzbeitrages. Den müssen die Krankenkassen von den Versicherten verlangen, wenn der allgemeine Beitragssatz, der derzeit für alle Kassen bei 14,6 Prozent liegt, nicht ausreicht, um die Ausgaben zu decken. Die Folge: Versicherer, die besonders sparsam sind, können den Zusatzbeitrag niedrig halten. Kassen, die spendabler sind, müssen höhere Zuschläge verlangen. Der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem:
"Es ist schon so, dass der Preiswettbewerb, den die Krankenkassen untereinander haben, also der Wettbewerb mit dem möglichst niedrigen Zusatzbeitrag, dass der dazu führt, dass die Krankenkassen in den Bereichen, in denen sie es können, versuchen, die Ausgaben möglichst zu begrenzen. Und die Krankenkassen haben erkannt, dass die Hilfsmittel ein Bereich ist, in dem man sparen kann. Und deshalb gehen die da auch mit einer ziemlichen Power rein."
Zum Beispiel durch die Ausschreibung von Hilfsmitteln. Einige Kassen sind aber schon einen Schritt weiter, und wollen den günstigsten Anbieter nicht mehr im Wettbewerb ermitteln, sondern den Preis selbst festlegen. Hersteller und Händler bleibt dann nur die Alternative, die Konditionen zu akzeptieren oder auszusteigen. Die SPD-Gesundheitsexpertin Martina Stamm-Fibich sieht das mit Sorge:
"Der Open-House-Vertrag unterscheidet sich von der regulären Ausschreibung, dass man eben diese Ausschreibung nicht macht, sondern eine Markterkundung durchführt. Somit auch einen Preis für ein Produkt ermittelt und dann die Leistungserbringer auffordert, zu diesem Preis ein Produkt zu liefern."
Ob ein solch einseitiges Preisdiktat der Kassen zulässig ist, klären derzeit die Gerichte. Der Vorstoß sei aber symptomatisch für das Geschäftsgebaren der Kassen, sagt die SPD-Abgeordnete Stamm-Fibich.
"Ich bin ein bisschen enttäuscht, weil wir uns sehr viel Mühe gegeben haben als Gesetzgeber versucht haben, ein gutes Gesetz zu machen. Und ich eigentlich sehe, dass es die Kassen nicht anwenden und in Teilen sogar dagegen arbeiten, gegen dieses Gesetz. Also wir sehen schon, dass es für die Patienten schwieriger wird."
Roland Sing sieht das ähnlich. Einige Kassen sparen auf Kosten der Patienten, sagt er. Und er muss es wissen, denn er war jahrzehntelang Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg.
"Bei den Arzneimitteln, die so ein Patient benötigt, da sparen die Kassen deshalb nicht, weil sie gar nicht sparen dürfen. Da ist die Rechtslage völlig anders. Und dann geht man an die kleinste Einheit, das ist in diesem Fall eben der Stomaartikel, und glaubt da, irgendwelche Kosten begrenzen zu können."
Heute ist Roland Sing Vize-Präsident des Sozialverbands VdK auf Bundesebene und Vorsitzender des VdK Baden-Württemberg.
"Was wir machen als Patientenschutzverband VdK, dass wir die Leute ermuntern, sich zu wehren. Und zu sagen: Nein, das ist keine sachgerechte Verordnung für meinen Vater oder für meine Mutter, die pflegebedürftig sind, und die eben ein solches Hilfsmittel benötigen."
Beratungsstellen für betroffene Patienten könnten helfen
Außerdem schlägt der VdK bundesweite Beratungsstellen für Patienten mit Hilfsmittel-Bedarf vor. Diese sollten im Fall von fraglichen Aufzahlungen klären, ob diese sinnvoll sind oder nicht. Ist das Hörgerät mit einer Aufzahlung von 1.000 Euro besser als das Gerät ohne Aufzahlung? Vor allem ältere Menschen sind mit diesen Entscheidungen alleine oft überfordert:
"Wenn Sie im Bereich der Handwerker ein Problem haben, dann können Sie auch an die Innung gehen und dort fragen. Das machen die dort freiwillig. Aber hier hätte ich das gerne gesetzlich verankert, weil es hier um gesetzliche Rechtsgrundlagen geht."
Muss also das Gesetz nachgebessert werden? Die Diskussion ist auch in Berlin längst im Gang. Der CDU-Gesundheitsexperte Roy Kühne:
"Also ich denke, dass wir das HHVG nachbessern müssen, konkretisieren müssen, was genau stellen wir uns unter Qualität vor. Vielleicht sollten wir präziser mit den Krankenkassen umgehen, sodass sie bessere Werkzeuge haben, um Qualität genehmigen zu können."
Vieles müsse auf den Prüfstand gestellt werden, fordert Kühne, auch die Ausschreibungspraxis der Kassen. Für ihn ist offen, ob Hilfsmittel in Zukunft überhaupt noch ausgeschrieben werden sollten. Die Grünen-Abgeordnete Maria Klein-Schmeink fordert eine grundlegende Kurskorrektur:
"Ich halte diesen rein ökonomisch motivierten Wettbewerb für einen verheerenden, weil er dazu führt, dass die Krankenkassen nur darauf schauen, ob sie mit ihren Budgets innerhalb eines Jahres zurechtkommen ohne den Zusatzbeitrag erhöhen zu müssen, weil sie wissen, wenn sie den erhöhen, dann wandern vor allem die Versicherten ab, die gut verdienen."
Dadurch werde ein Wettbewerb um gute Qualität verhindert, meint die Grünenpolitikerin Klein-Schmeink. Den will auch die Sozialdemokratin Martina Stamm-Fibich, Und sieht da auch den neuen Gesundheitsminister Jens Spahn in der Pflicht:
"Ich sehe schon, dass wir in einigen Feldern klare Worte brauchen. Und jetzt haben wir ja einen neuen Minister. Mal schauen, ob wir ihn dafür begeistern können."
Quelle: Deutschlandfunk.de vom 16.04.2018