Tabuthema Inkontinenz Ein windelweiches Management der Demographie-Krise
von Martina Lenzen-Schulte
FRANKFURT am Main: Die Medizin wendet sich beim Thema Inkontinenz ab: Viele Arzneien und Krankheiten fördern die Ausbreitung der Blasenschwäche. Als in Japan 2015 erstmals mehr Windeln für Senioren als für Babys verkauft worden sind, galt dies Demographen als weiterer Beleg für die Überalterung vieler Nationen. Der Zellstoffhersteller SCA - seine TENA-Inkontinenzprodukte beherrschen den europäischen Markt mit 60 Prozent - sieht das eher als Zeichen dafür, dass sich Senioren von einer schwachen Blase nicht an Freizeitaktivitäten und Sozialkontakten hindern lassen wollen. Für Andreas Wiedemann, Chefarzt der Urologischen Klinik am Evangelischen Krankenhaus Witten, symbolisiert das jedoch vor allem ein Versagen der Medizin. „Windeln oder Vorlagen sind doch keine ,Level-one-Körperpflege‘, auch wenn sie so vermarktet werden. Es handelt sich bei der Inkontinenz um eine Erkrankung, die man behandeln sollte“, betont der Urologe. Für ihn ist die Windel lediglich eine regressive Notlösung: „Damit dokumentieren wir Abhängigkeit, der Windelträger sinkt auf Kleinkindniveau.“
In Sachen Diagnose und Therapie der Inkontinenz gibt es jedoch erhebliche Defizite, die letztlich zu Lasten der Patienten und ebenso zu Lasten der pflegenden Angehörigen gehen. Wie Wiedemann soeben in einer Mitteilung der Deutschen Inkontinenzgesellschaft beklagt, ist den wenigsten Gesundheitspolitikern bewusst, dass Inkontinenz ein Begleitphänomen zahlreicher Erkrankungen ist, dass diese sich wechselseitig aufschaukeln und dass Inkontinenz künftig praktisch alle Fächer der Medizin durchdringen wird. Nichts macht dies augenfälliger als die Tatsache, dass zahlreiche Arzneimittel zur Behandlung einer Demenz die Blasenfunktion beeinträchtigen - und dass Harnblasenmittel sich katastrophal auf das Gehirn auswirken können. „Gerade neuere Antidementiva wie Donezepil, Rivastigmin und Galantamin verändern als Cholinesterasehemmer die Funktion des Detrusors, jenes Muskels, der für die Entleerung der Blase zuständig ist“, erläutert Wiedemann.
Eine Fülle von Medikamenten beeinträchtigt Schließmuskel
Das ist umso problematischer, als die Demenz selbst schon für eine überaktive Blase verantwortlich sein kann. Andererseits sind Anticholinergika, die man beispielsweise zur Therapie einer überaktiven Blase einsetzt und die ins Gehirn gelangen, mit Nebenwirkungen wie Schwindel, Schlafstörungen und Delirium behaftet. „Es ist inzwischen bekannt, das langjährige Behandlungen mit solchen Anticholinergika die Kognition der Patienten beeinträchtigen.“ Stellt man sich nun einen älteren Patienten vor, der nachts öfter auf die Toilette muss und dem dann durch ein Medikament zusätzlich schwindelig wird, ist ein Sturz geradezu vorprogrammiert. Für die Betroffenen potentiert die häufig infolge einer Sturzverletzung verstärkte Immobilität die Inkontinenz. Denn Inkontinenz ist auch eine Frage der Beweglichkeit: Wenn der Schließmuskel nicht mehr verlässlich funktioniert, ist es umso wichtiger, bei Harndrang so rasch wie möglich zur Toilette zu kommen. Sturzprophylaxe wird damit zu einer Aufgabe, die letztlich verhütet, dass sich verschiedene Inkontinenzformen weiter verschlimmern.
Ähnlich unglückliche Teufelskreise ergeben sich aus Demenz, Diabetes und Inkontinenz: „Wir wissen aus einer eigenen Erhebung an der Universität Witten-Herdecke, dass beispielsweise unter Diabetikern doppelt so viele inkontinent sind wie unter Patienten gleichen Alters, die nicht zuckerkrank sind“, sagt Wiedemann. Aber die Zivilisationskrankheit Diabetes schlägt längst nicht nur auf die Blase, sondern auch auf die Gehirnfunktion, das Risiko einer Demenz ist unter Diabetikern deutlich höher. Gleichzeitig ziehen manche Antidiabetes-Medikamente, die einen vermehrten Zuckerabfluss über den Harn herbeiführen, mehr Harninfektionen und eine Harnflut nach sich. Alles Faktoren, die bei der Entstehung verschiedener Inkontinenzformen zu Buche schlagen und diese verschlechtern können.
Wiedemann könnte zahlreiche weitere Verquickungen dieser Art nennen. Für den einzigen Urologen Deutschlands, der im Fach Geriatrie habilitiert ist, ist vor allem das Alter ein weiterer Risikofaktor für solche ungünstigen Interaktionen, nicht zuletzt, weil alte Patienten eine Vielzahl von Medikamenten erhalten. Deshalb sollte bei jedem harninkontinenten Patienten die Windel lediglich die Ultima Ratio sein, zuvor müsse geprüft werden, ob nicht schon das Absetzen eines Medikamentes helfe. Eine Fülle von Medikamenten kann die Schließmuskeln der Blase oder den Harntrakt insgesamt beeinträchtigen. Dazu zählen neben den Antidementiva häufig verordnete Arzneimittel wie Kalziumantagonisten und andere blutdrucksenkende Mittel, Beruhigungsmittel, Neuroleptika oder Schmerzmittel wie Opiate.
Einen Windelbonus auf Bio- und Restmüllkosten
Eine weitere Option zur Verbesserung der Inkontinenz ist das Verhaltenstraining. Es gibt inzwischen auch für alte, selbst für demente Patienten vielfältige Varianten der Blasenkonditionierung, die individuell angepasst werden können. Schließlich liegt ein wichtiger Ansatzpunkt in der konsequenten Verbesserung der Mobilität. „Wenn der Orthopäde einer älteren Frau mit Knieschmerzen ermöglicht, schmerzfrei zu gehen, behandelt er letztlich auch ihre Inkontinenz“, erläutert Wiedemann die Abhängigkeit der Erkrankungen voneinander. Denn wenn eine inkontinente ältere Frau aufgrund der Gelenkbeschwerden nicht mehr rechtzeitig die Toilette erreicht, wird aus einem beherrschbaren Symptom die manifeste Krankheit.
Allerdings versäumen es häufig die Mediziner selbst, das ubiquitäre Phänomen Inkontinenz anzugehen. Allein 30 Prozent aller Patienten, die zum Arzt gehen, sind inkontinent, und von denen, die in die Klinik eingewiesen werden, sind es schon 50 Prozent, in Altenheimen sind 85 Prozent der Bewohner inkontinent. Aufmerksamkeit erhalten sie in puncto Harnblase aber zu selten. So wird nur die Hälfte derer, die beispielsweise in ein Krankenhaus nach Hüftfraktur eingewiesen werden, nach Schwierigkeiten mit der Blasenfunktion gefragt. Von denen, die solche einräumen, erhält nur ein Viertel eine weiterführende Abklärung zur Differenzierung der Beschwerden.
Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass selbst simple Maßnahmen wie die Interpretation eines Blasentagebuches noch unterfinanziert sind, von mitunter wichtigen Untersuchungen zur Erkennung von Druckverhältnissen an der Harnblase ganz zu schweigen. Deshalb verweisen nicht nur Hausärzte, sondern sogar urologische Fachpraxen ihre Patienten an sogenannte Kontinenz- und Beckenboden-Zentren, deren mitunter aufwendige Diagnostik meist nicht erstattet wird. Eine flächendeckende Versorgung ist daher absehbar gefährdet, weil alle mit Kontinenz in Zusammenhang stehenden Erkrankungen stetig zunehmen. Im Unterschied zum Gesundheitssystem haben sich nicht nur die Windelhersteller, sondern auch die Abfallwirtschaft schon darauf eingestellt - gemäß dem Saarbrückener Modell erhalten Erwachsene mit Inkontinenzproblemen einen Windelbonus auf Bio- und Restmüllkosten, die nach Gewicht berechnet werden.
Quelle: Frankfurter Allgemeine vom 06.06.2016